Einen Soziologen zu fragen, was die Gesellschaft zusammenhält, ist ein riskantes Unterfangen – wir pflegen nämlich bei der Beantwortung solcher Fragen zunächst einmal die Frage danach zu befragen, was sie denn bedeutet. Die Frage ist legitim und wichtig, schon deswegen, weil moderne Gesellschaften anders als alle früheren vor allem davon geprägt sind, dass sie mit Differenzen zu tun haben. Man kann das, was eine Gesellschaft ausmacht, durchaus auf die Formel bringen, es handle sich um die Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem. Erst hier stellt sich die Frage nach Zusammenhalt, weil Modernisierungsprozesse Differenzierungsprozesse sind.
Unterschiedliche Dynamiken laufen gleichzeitig ab
Das gilt unter sachlichen Aspekten etwa dafür, wie gleichzeitig unterschiedliche Logiken aufeinandertreffen. Eine der größten Herausforderungen besteht darin, wie man staatliche Regulierung und ökonomische Dynamik zusammendenken kann, auch wie man wohlfahrtsstaatliche Sicherheit und ökonomische Risikobereitschaft miteinander versöhnt. Wir wissen, dass wissenschaftliche und religiöse Formen der Weltauffassung in Konflikt miteinander geraten können. Bildungsprozesse sind oft langwieriger und langsamer, als der gesellschaftliche Bedarf nach schnellen Reaktionen es erwartet. Und rechtliche Konfliktregulierung und politischer Gestaltungswille folgen bisweilen ganz unterschiedlichen Handlungszwängen. Auf sachlicher Ebene nennen wir diese Form der Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem Komplexität – es macht die Welt komplexer, schwerer steuer- und kontrollierbar, weil eben unterschiedliche Dynamiken gleichzeitig ablaufen. Das führt übrigens auch dazu, dass Politik nicht das Zentrum der Gesellschaft ist. Sie kann und muss kollektiv bindend entscheiden, kann aber nicht vollständig kontrollieren, was die anderen Teile der Gesellschaft mit politischen Regulierungen anfangen.
Von der sachlichen unterscheiden wir die soziale Dimension. Auch hier gibt es eine immer stärkere Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem. Pluralere Lebensformen, weniger geschlossene Milieus, höhere räumliche und soziale Mobilität, soziale Ungleichheit und unterschiedliche Lebenschancen, nicht zuletzt kulturelle Differenz durch Migration. Auch hier entsteht eine Form höherer Komplexität, die für manche Gruppen leichter, für andere weniger leicht auszuhalten ist.
Beide Formen, die sachliche und die soziale Form der Differenzierung, sind die Kräfte, die die moderne Gesellschaft so unübersichtlich machen und die Frage nach gesellschaftlichem Zusammenhalt erst stellt. Wenn man sich die wichtigsten Parameter der deutschen und der bayerischen Gesellschaft ansieht, so kann man durchaus behaupten, dass die Gesellschaft mit diesen Formen von Differenz und Vielfalt viel gelassener umgeht, als es die öffentlichen Diskussionen vermuten lassen. Am Migrationsthema kann man das sehr deutlich sehen: Die öffentliche Diskussion um Migration im Allgemeinen und um Flucht im Besonderen übersieht bisweilen, wie erfolgreich unser Land war, zu relativ unproblematischen Formen der Integration in den allergrößten Teilen der Gesellschaft zu kommen.
Starker inklusiver Sog
Das ist ein Zeichen dafür, dass unsere Gesellschaft trotz aller Komplexität, trotz der hohen Dynamik, auch trotz vieler Vorurteile (von beiden Seiten übrigens!) einen starken inklusiven Sog erzeugt hat, der im internationalen Vergleich sehr erfolgreich ist – auch wenn es durchaus problematische Entwicklungen gab und gibt. Gerade die bayerische Integrationspolitik ist erfolgreich, weil sie sehr unprätentiös und gezielt an den konkreten Erfordernissen für Integration ansetzt – übrigens oftmals in Kleinstädten und in der ländlichen Region viel eindringlicher als in den großen Städten. Das liegt an vernünftigen Konzepten, aber auch an der inklusiven Kraft einer Bevölkerung, deren konservative Ausrichtung mit einer Offenheit gepaart ist, die an konkreten Lebenssituationen ansetzt. Ich habe mich davon oft selbst überzeugen können und bin davon sehr beeindruckt. Aber an die Adresse der CSU möchte ich schon sagen: Manchmal wünschte ich mir, dass sich die erfolgreiche Arbeit auch in der politischen Kommunikation wiederfindet. Ihre eigene Klientel ist stärker, als es ihr bisweilen erscheint.
Was den gesellschaftlichen Zusammenhalt angeht, so bin ich sicher, dass es gerade das Bezugsproblem eher konservativer Politik ist, die Bedürfnisse nach Sicherheit und Kalkulierbarkeit mit einer sachlich und sozial dynamischen Gesellschaft zu versöhnen. Auch das darf ich von außen sagen: Die Modernisierungsbemühung um einen zeitgemäßen Konservatismus, der sich mit Pluralismus und Dynamik versöhnt, finde ich in weiten Teilen sehr überzeugend. Auch wenn ich nicht alles teile – so müssen die großen politischen Kräfte ihre identitätsstiftenden Narrative weiterführen. Von Sozialdemokraten müsste man neue Konzepte für soziale Aufstiegsmöglichkeiten erwarten, von konservativer Seite eher den Schwerpunkt, den ich gerade genannt habe.
Vielleicht ist das der entscheidende Beitrag der Politik für gesellschaftlichen Zusammenhalt: Legitime Alternativen anzubieten, die Vertrauen in politische Entscheidbarkeit schaffen. Dann werden selbsternannte Alternativen keine Chance mehr haben.