HERZKAMMER
Ist Familie die Basis von Zusammenhalt?
FABIENNE BECKER-STOLL
Die Eltern-Kind-Beziehung ist der Mikrokosmos, in dem Beziehungsfähigkeit erworben wird. Das kann auch eine Familie sein, in der es keine biologische Verwandtschaft gibt. Es ist wichtig, dass das Neugeborene die Erfahrung machen kann, dass jemand kontinuierlich die Verantwortung für sein Wohlergehen übernimmt. Wenn in den ersten zwei Jahren in der Familie keine Bindungserfahrungen gemacht werden, ist es auch kaum noch nachzuholen. Durch Bücherlesen geht das nicht und durch Anhören von Vorträgen auch nicht.
JOSEF BRÜDERL
Je mehr der Staat als Fürsorger auftritt, desto weniger wichtig ist der familiäre Zusammenhalt. Deutschland hat im internationalen Vergleich einen relativ gut ausgebauten Sozialstaat. Deswegen ist es auch nicht nötig, dass die Familie so eng zusammen ist wie etwa im südosteuropäischen und osteuropäischen Raum.
JOACHIM UNTERLÄNDER
Ich bin der Überzeugung, dass ein gut ausgestatteter Sozialstaat allein nicht in der Lage ist, die familiären Verbünde zu ersetzen. Wenn Menschen in ihrer Kindheit Probleme in Beziehungen haben, dann hat das sowohl individuelle Auswirkungen als auch Auswirkungen auf die Gemeinschaft. Und da kommt die Politik ins Spiel, was die Unterstützung von Erziehung und Bildung, aber auch von familiären Prozessen angeht.
HERZKAMMER
Wie hat sich das Familienbild in den letzten Jahrzehnten geändert?
JOSEF BRÜDERL
Was man deutlich sieht: Eheschließungen gehen zurück und Fernbeziehungen nehmen zu. Außerdem ist die Geburtenrate gesunken und der Zeitpunkt der ersten Geburt hat sich nach hinten verschoben. Die Zahl der Partnerschaften nimmt nicht ab, aber die institutionellen Ausprägungen haben sich deutlich verändert. Ehen sind heute nicht mehr so stabil wie früher. Probleme in Beziehungen gibt es heute genauso wie damals, aber die Umstände haben sich geändert. Das ist ein Wohlstandsphänomen. Man muss sich ein eigenes Leben leisten können und das war früher schwierig außerhalb einer Ehe. Um es etwas überspitzt zu formulieren: Bei kleinen Problemen trennt man sich heute.
TANJA SCHORER-DREMEL
Früher gab es die Mehrgenerationenfamilie, in der die lokalen Verwurzelungen stärker ausgeprägt waren. Durch die veränderten Berufsstrukturen ist das Bedürfnis nach mehr Flexibilität und einer Nachmittagsbetreuung entstanden. Was als Konstante die ganze Zeit geblieben ist: Eine intakte Familie, egal wie wir Familie definieren, kommt mit Herausforderungen in der Erziehung besser zurecht.
JOACHIM UNTERLÄNDER
Wenn von Flexibilisierung von Arbeitswelten gesprochen wird, meint man häufig damit, dass jemand länger arbeiten kann. Aber das ist eigentlich nicht das Ziel einer familiengerechten Arbeitswelt, sondern diese muss auf die Bedürfnisse der Familien abgestimmt sein. Wir müssen die Familien dort abholen, wo sie stehen. Mit flexiblen Modellen in der Familienpolitik müssen wir die Arbeit familiengerecht und nicht die Familie jobgerecht machen.
HERZKAMMER
Welche positiven Rahmenbedingungen kann die Politik schaffen?
JOACHIM UNTERLÄNDER
Zunächst einmal sorgen wir dafür, dass Familien in unterschiedlichen Lebenssituationen und -phasen finanziell entlastet werden, sei es durch Erziehungsgeld, durch Elterngeld oder durch Betreuungsgeld. Zweitens unterstützen wir in Kindertagesstätten, Kindergärten und Schulen die Entwicklung der Kinder. Wenn wir wissen, dass die optimale Kinderentwicklung in den ersten Jahren erfolgt, dann muss unser Augenmerk auch hier liegen. Ein wichtiger Punkt ist außerdem die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Hier gibt es noch einen großen Nachholbedarf. Aufgabe der Politik ist es, die Anforderungen der Gesellschaft mit den Anforderungen der Familie und den Werten, die dort bestehen, zusammenzubringen.
JOSEF BRÜDERL
Die Politik hat schon sehr gute Rahmenbedingungen geschaffen. In den letzten zehn Jahren hat in der Familienpolitik allerdings der finanzielle Aspekt eine sehr starke Rolle gespielt. Unsere Studien zeigen, dass dieser finanzielle Aspekt nicht mehr im Vordergrund steht. Die Menschen haben das Bedürfnis, dass die Politik diese finanzielle Unterstützung noch klarer als Zeichen der Wertschätzung einer Familie benennen muss.
TANJA SCHORER-DREMEL
Die Säulen, die Herr Unterländer angesprochen hat, bleiben unvollständig, wenn nicht diese emotionale Bedeutung von Familie von vornherein mit dabei ist. Letztendlich ist das, was Familien wirklich brauchen, die Wertschätzung und ein entsprechender Stellenwert in der Gesellschaft.
HERZKAMMER
Herr Brüderl, Sie sind Projektleiter der Langzeitstudie PAIRFAM, in der Sie unter anderem die Eltern-Kind-Beziehung untersuchen. Was sind bisher die spannendsten Ergebnisse?
JOSEF BRÜDERL
Neben den bereits angesprochenen Veränderungen im Verständnis von Familie ergeben sich spannende Ergebnisse bei der Frage nach dem Auszug von Zuhause. In verschiedenen Kulturen unterscheidet sich das Alter, in dem Kinder ausziehen, enorm. Dabei spielen der Arbeitsmarkt und der Wohnungsmarkt eine wichtige Rolle. Wenn man keinen Job und keine Wohnung findet, dann ist es die günstigste Option, zuhause im Hotel Mama zu bleiben. Das sehen wir zum Beispiel ganz deutlich in Italien. Gerade die jungen Männer ziehen dort teilweise erst mit 40 aus. Wir wissen, die Jugendarbeitslosigkeit ist dort sehr hoch. Deutschland liegt mit einem Auszugsalter von Anfang 20 im Mittelfeld. Nach dem Auszug von Zuhause leidet die Bindung zu den Eltern aber nicht deutlich. Man sieht schon einen kleinen Rückgang, zum Beispiel bei den alltäglichen Kontakten. Das ist ja selbstverständlich. Aber was die emotionale Bindung und deren Qualität angeht, bleibt diese auch nach dem Auszug bestehen, wenn das Kind in seiner Erziehung Zusammenhalt und Nähe erfahren hat.
HERZKAMMER
Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die Religion, wenn es um den Zusammenhalt in der Familie geht?
JOACHIM UNTERLÄNDER
Wenn Religion in der Gemeinschaft gelebt wird, kann es eine Chance sein, den sozialen Zusammenhalt und die Stabilität einer Gesellschaft insgesamt zu verbessern. In einer religiösen Gemeinschaft existieren Werte, die für die Gesellschaft sehr prägend sind.
FABIENNE BECKER-STOLL
Alle Religionen begleiten Übergänge im Leben gemeinschaftlich, sei es bei der Geburt, Taufe, Firmung, Trauung oder bei Beerdigungen. In irgendeiner Form kommen diese gemeinschaftlichen Rituale in jeder Religion vor. Das ist entwicklungspsychologisch wichtig, weil diese religiösen Traditionen und Werte Ausdruck einer kulturellen und religiösen Verbundenheit sind und somit Gemeinschaft hervorrufen.
TANJA SCHORER-DREMEL
Jede Familie ist eine in sich geschlossene Keimzelle, die wiederum Teil der Gesellschaft ist. Rituale und Kultur verflechten diese Familienverbünde miteinander. Ereignisse wie eine Taufe, Ehe oder auch eine Beerdigung geben uns die Möglichkeit, zusammenzukommen, sich gemeinsam zu freuen oder sich gegenseitig zu trösten. Religion, Kultur und Geschichte, das sind die Pfeiler in unserer Gemeinschaft.
HERZKAMMER
Was bedeutet für Sie ganz persönlich Familie?
TANJA SCHORER-DREMEL
Familie bedeutet für mich, bedingungslos füreinander da zu sein. Hier kann man mit jeder Art von Problemen hingehen und weiß, dass man anerkannt ist und mit all seinen Stärken und Schwächen geliebt wird.
FABIENNE BECKER-STOLL
Familie ist der Ort, an dem Beziehungen als Glück erfahren werden können und man sich das auch gegenseitig zeigt.
JOSEF BRÜDERL
Familie bedeutet für Menschen, bedingungslos füreinander einzustehen.
JOACHIM UNTERLÄNDER
Familie ist für mich Geborgenheit und Vertrauen.
JOACHIM UNTERLÄNDER ist Vorsitzender des Ausschusses für Arbeit und Soziales, Familie und Integration des Bayerischen Landtags. Im Frühjahr 2017 wurde er zum Vorsitzenden des Landeskomitees der Katholiken in Bayern gewählt.
TANJA SCHORER-DREMEL ist Mitglied in der Arbeitsgruppe Frauen und in der Projektgruppe Ganztagsschule der CSU-Fraktion sowie Vorsitzende der Kinderkommission des Bayerischen Landtags. Vor ihrer Zeit als Abgeordnete war sie mehr als 25 Jahre als Grundschullehrerin und Rektorin einer Grundschule tätig.
PROF. DR. FABIENNE BECKER-STOLL ist Direktorin des Staatsinstituts für Frühpädagogik und Dozentin am Department Psychologie an der LMU München. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Entwicklungspsychologie in Familien von der frühen Kindheit bis zur Adoleszenz.
PROF. DR. JOSEF BRÜDERL ist Soziologe und hat an der LMU München den Lehrstuhl „Soziologie, insbesondere Institutionen und Organisationen“ inne. Als Projektleiter der Langzeitstudie Pairfam beschäftigt er sich seit vielen Jahren mit Familien- und Partnerschaftsbeziehungen.