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Interview
Wir müssen unser Gehirn umbauen und Zukunft trainieren
Lesezeit: 9 Minuten

Tobias Reiß im Gespräch mit Prof. Dr. Thomas Druyen, Leiter des Instituts für Zukunftspsychologie und Zukunftsmanagement an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien

 

Wie geht es Ihnen, wenn Sie an die Zukunft denken?

Sehr zwiespältig oder mit anderen Worten: enthusiastisch und verzweifelt, blicke ich auf unsere zivilisatorischen Errungenschaften. Von der  Genschere CRISPR über die Chancen der Künstlichen Intelligenz bis hin zur Vision des Cyborgs haben wir gigantische Erfolgsaussichten. Unsere kühnsten Träume eines ganz langen, gesunden und gerechten Lebens im Universum können Wirklichkeit werden. Wir sind in der Lage, uns praktisch neu zu erfinden. 

Auf der anderen Seite sind wir von einer unfassbaren psychologischen und humanen Ohnmacht erfasst. Der Wille, an einem Strang zu ziehen, löst sich auf und alle kämpfen nur noch für sich. Die Probleme sind wie eine neue Hydra. Ständig wachsen neue nach, allerdings ohne dass die alten gelöst würden. Der Druck im gesellschaftlichen Kessel steigt. Richtig und Falsch, Gut und Böse werden mittlerweile völlig unterschiedlich wahrgenommen. Aus Meinungsvielfalt wurde ein Meinungstsunami. Willkommen im Zeitalter der Paradoxie.  

Warum fällt es uns so schwer, Veränderungen anzugehen, auch wenn sie notwendig sind?

Unser Körper, unser Geist und unsere Kultur streben vor allem nach Sicherheit, nach Überschaubarkeit und nach Planbarkeit. Überraschungen und Unvorhersehbarkeit sind nicht unser Ding. Wir wollen Kontinuität. Dies ist durch vielerlei Studien bewiesen. Dieses Fundament macht uns belastbar und krisenfest. Wenn etwas passiert, stellen wir uns darauf ein und versuchen den Status quo wieder  herzustellen. Das hat Jahrzehnte großartig geklappt und uns mit an die Spitze der Welt gebracht.  



Die digitalen Revolutionen haben aber eine gigantische und exponentielle Beschleunigung unserer globalen und technischen Entwicklungen ausgelöst. So wurden Wandel und Veränderung in den letzten beiden Jahrzehnten zur neuen Normalität. Darauf haben wir uns immer noch nicht eingestellt. Ich kann mit Führerscheinklasse 3 keine Rakete fliegen. Wir brauchen ein neues Mindset. Wer möchte, dass es so bleibt wie es ist, wird verloren sein. Jetzt ist die Zukunft unsere Spielwiese. Und wir müssen sie gestalten und nicht so ähnlich haben wollen wie die Vergangenheit.   

Wie können wir uns besser auf Zukunft „trainieren“?

Ganz genau. Wir müssen Zukunft trainieren. Es beginnt mit unserem Gehirn. Es muss lernen mit Unsicherheit, Stress und Angst souverän umzugehen. Alles verändert sich so schnell. Das zwingt uns, viel häufiger Entscheidungen zu treffen, Fehler zu machen und andere Optionen zu suchen. Wie ein Schachspieler kann man üben, viele Züge im Voraus zu denken. Es ist egal, ob es dann so kommt. Hauptsache, man trainiert sein Gehirn und übt sein Vorstellungsvermögen. Das fehlt uns nämlich. Wir empfinden das Neue als Abweichung vom Gewohnten. Das ist überholt. Das Neue ist das Material, mit dem wir unsere Zukunft bauen. 

Tatsächlich geht es um den Umbau unseres Gehirns und unserer Kultur. Es ist nun existentiell nach vorne zu denken und nicht nur reaktiv zu agieren. Je komplizierter es wird, desto mehr wollen wir Menschen vorschreiben, was sie zu tun haben. Aussichtslos. Wer Freiheit in jedem Detail verwalten will, hat keine Überlebenschance. Dieses Thema ist natürlich nicht mit ein paar Sätzen zu beantworten.

Um diese Zukunftsfähigkeit zu trainieren, haben wir die Zukunftspsychologie und die Zukunftsnavigation begründet. In tausenden Interviews stellen wir Fragen über eine Zukunft in zehn oder fünfzehn Jahren, um die Phantasie und die Vorstellungskraft der Befragten zu beflügeln. So lernt man spielerisch mit der Zukunft umzugehen und sein Gehirn sukzessive umzubauen.

Technologie bestimmt unseren Alltag und wird dies in den kommenden Jahren in einem Ausmaß tun, das wir uns zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht vorstellen können. Wie hilft uns Technologie, auf künftige Ereignisse und Veränderungen besser vorbereitet zu sein?

Unvorstellbar gut. Denken wir nur an ein Smartphone. In kurzer Zeit ist aus einem ehemaligen Telefon ein zeit- und raumunabhängiges Büro geworden. Dieses Multifunktionsgerät selbst ist also das Vehikel und der Treiber von Veränderung. Bei Kindern hat es spielerisch sogar Kompetenzen erzeugt, die vielen Erwachsenen und Lehrern fehlen. Außerdem haben sich in den jungen Gehirnen neue Verbindungen ergeben, die den Umgang mit Künstlicher Intelligenz völlig selbstverständlich und organisch machen.

Das Smartphone ist bald in eine virtuelle Brille eingebaut. Dann können wir diese gesamte Technik mit Sprache steuern und haben alle Informationen zur Verfügung und dennoch die Hände frei. Es wird nicht lange dauern, dann wandert die Technik direkt in unser Gehirn. Wird dort implantiert und wir nutzen alles mit Gedankenkraft. Wir sollten nicht vergessen, diese Technologie ist das Resultat menschlicher Erfindungsgabe. Wir haben Big Tech auch erfunden, um unsere Schwächen zu kompensieren. Niemand kann 100 Sprachen in drei Sekunden lernen. Digital geht das. Diese Technologie ist die wichtigste Leistung der Menschheit, um über sich selbst hinauszuwachsen und endlich Gerechtigkeit zu erzeugen.  

Tobias Reiß im Interview
Stellvertretender Fraktionsvorsitzender und Initiator des Zukunftsprozesses der CSU-Fraktion, Tobias Reiß, führte das Gespräch mit Prof. Dr. Druyen via Videocall.
@CSU-Fraktion

Sind Bots also die besseren Entscheider?

Vielleicht irgendwann. Im Moment zeigt uns der aktuelle und spektakuläre ChatGPT, welche Veränderungen uns ins Haus stehen. Jede Frage, ob wissensbasiert, medizinisch oder juristisch wird er irgendwann perfekt beantworten können. Seine Daten- und Auskunftskompetenz wächst permanent. Doch was bedeutet das?

Für allgemeine Fragen brauche ich kein Google, keine Suchmaschine, keinen Assistenten, keinen Arzt, keinen Anwalt, keine Behörde und keine Auskunft mehr. All dies steckt in diesem Bot, der uns präzise mit allem Wissen der Welt versorgt und vernetzt. Diese digitalen und virtuellen Fähigkeiten werden selbstverständlich bei Entscheidungen maßgeblich hilfreich sein. So etwas wie Objektivität könnte wieder möglich werden und damit auch eine klare Unterscheidung zwischen Richtig und Falsch. 

Zukunftstrends gibt es ja in vielen Bereichen – in der Arbeitswelt, im Konsumverhalten, in der Art, wie wir kommunizieren. Was, wenn sich herausstellt, dass das „Vorher“ doch besser gepasst hat? Dürfen sich Zukunftstrends auch ein „Zurück zum Vorher“ erlauben?

In der gesamten Menschheitsgeschichte gab es kein zurück zum Vorher. Selbst das Verschwinden der Saurier war Teil des Fortschritts. Wer aber die Rückwärtsgewandtheit verfolgt, ist meiner Meinung nach für eine gemeinsame Zukunft untauglich. Ein Spaziergang wird in vielerlei Hinsicht immer wichtig, erholsam und beruhigend sein. Aber das ist kein Zurück in die Natur, sondern eine aktuelle und unverzichtbare Form, mit der Natur zu korrespondieren. Künstliche Intelligenz wird natürliche Intelligenz nicht ersetzen, sondern ergänzen. 

Was bedeutet das vielleicht auch in puncto Berufe der Zukunft. Sie selbst haben einen 16-jährigen Sohn. Zu welcher Berufswahl würden Sie ihm raten?

Im Moment zu keinem. Er ist 16 Jahre alt. Welche neuen Berufe es in fünf Jahren geben wird, wissen wir noch gar nicht. Jetzt kann er lernen zu lernen, mit Ideen spielen, sich künstlich intelligente Technologien aneignen und umsetzen. Er kann spielerisch verinnerlichen, dass nichts mehr sicher ist und dass man jederzeit in der Lage sein sollte, sich auf neue Verhältnisse einzulassen. Ich bin froh, wenn er Abitur hat und dann ein paar Monate als Backpacker oder als offen Neugieriger durch die Welt zieht. Besser und mehr lernen, kann man ohnehin nicht.

Es geht nicht mehr darum, sich bloß Wissen anzueignen. Heute muss man verstehen lernen, Muster und Zusammenhänge erkennen. Da sich alles ändert, ist die Theorie sekundär. Die Jungen lernen beim Spiel und in der Praxis. Dazu gehört auch sehr dominant die digitale Welt mit ihren Avataren und ihrer Grenzenlosigkeit. Mein Sohn muss nicht mehr meine Erwartungen erfüllen. Mal denkt er an Meeresbiologe, mal Medizin für Kinder, mal an Regie bei japanischen Mangas, mal will er nur mit seinen Kumpels in der virtuellen Welt spielen. Er soll glücklich und selbst bestimmt werden. Das ist meine ganze Hoffnung. Daher gebe ich den Rat vom bekannten Dante Alighieri gerne weiter: „Der eine wartet, dass die Zeit sich wandelt, der andere packt sie an und handelt.“

 

 

Prof. Dr. Thomas Druyen
Prof. Dr. Thomas Druyen ist Präsident der opta data ZukunftsStiftung und Direktor des Institutes für Zukunfts-psychologie und Zukunftsmanagement an der Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien
@AMADEUS-BLACHOWICZ

Bitte vervollständigen Sie folgende Sätze:

Politik der Zukunft sollte sich ... 

vor dem Hintergrund all der veränderten Optionen selbst neu erfinden. 

Technologie ist unersetzlich, weil ...

sie das beste Ergebnis menschlicher Schöpferkraft ist.

Der Mensch ist unersetzlich, weil ...

er die Chance besitzt, sich selbst und die Welt besser zu machen. 

Zukunftspsychologie ist wichtig, weil ...

sie uns unterstützt, unsere Denk- und Handlungsweisen auf die Zukunft auszurichten.

 

 

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