Interview
Die Zukunft ist offen

Interview mit Prof. Dr. Andreas Rödder

Mit welchen bedeutenden gesellschaftlichen Umwälzungen der Vergangenheit kann man die Digitalisierung vergleichen?

Die Digitalisierung verändert unsere Lebensumstände durch technologische Neuerungen, die zugleich das Gefühl der Beschleunigung auslösen. Das erinnert historisch sehr an die Zeit vor 1914. Damals war die Elektrizität so etwas wie Digitalisierung 1.0 – allein schon die elektrische Beleuchtung, die auf Knopfdruck anging statt der Gaslaterne, die von Hand entzündet werden müsste, versetzte die Zeitgenossen in Staunen. Und alles wurde schneller: Die Dampfschiffe lieferten sich Wettrennen um das blaue Band über den Atlantik, Louis Blériot flog als Erster über den Ärmelkanal, und Sechstagerennen waren der letzte Schrei, was Tempo betraf. Höher, schneller, weiter – nicht durch Zufall wurden auch die Olympischen Spiele wiederbegründet. Das alles aber war zugleich mit enormen Ängsten belegt: Wohin führt dieser beschleunigte, unabsehbare Wandel? Und der Untergang der Titanic war das Menetekel für die großen Gefahren, die destruktiven Potenziale, die sich dann im Ersten Weltkrieg entluden.

Gefühlt scheinen uns die technologischen Entwicklungen geradezu zu überrollen. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Zeit, die Menschen haben, sich auf gesellschaftliche Veränderungen einzustellen, und der Akzeptanz von Neuerungen?

Dazu gibt es keine empirischen Messreihen und entsprechende statistische Daten. Was aber auf der Hand liegt: Je schneller die Veränderungen auftreten, desto größer wird die Verunsicherung, wo das alles hinführt – und desto größer ist auch die Gefahr, dass die Menschen Zuflucht in den einfachen Antworten suchen. Das ist der Hintergrund für die totalitären Bewegungen: klare Verhältnisse durch die Ideologie der Klasse oder der Rasse. Das ist die politische Gefahr, die solchen beschleunigten Veränderungen innewohnt – und die Herausforderung an die politische Mitte, den Wandel politisch so zu gestalten, dass die Menschen mitkommen können und nicht Zuflucht in den einfachen, unterkomplexen, autoritären oder totalitären Lösungen suchen.

In einem Interview sprechen Sie davon, dass wir bei der Digitalisierung nicht den einen großen Bruch erleben, sondern vielfältige Transformationsprozesse. Was meinen Sie damit?

Es ist die Grunderfahrung des modernen Menschen seit dem 19. Jahrhundert, dass die Zukunft nicht mehr oder weniger so wird, wie die Vergangenheit es war, sondern dass sie offen ist. Und das hat mit der technologischen Entwicklung zu tun. Die Eisenbahn zum Beispiel hat Fortbewegung von menschlicher und tierischer Muskelkraft abgelöst – das war für die Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts eine ähnlich grundstürzende Erfahrung wie im 21. Jahrhundert das Smartphone. Die Elektrizität, wie gesagt, war der zweite Schub, die Mikroelektronik war der dritte. Insofern hat der Mensch des 21. Jahrhunderts kein Copyright auf die Erfahrung beschleunigter grundstürzender Veränderungen.

Mottobild zum Thema "Die Zukunft ist offen"
Prof. Dr. Andreas Rödder
@Bert Bostelmann

Ist es historisch betrachtet „normal“, dass Menschen auf tiefgreifende technologische Veränderungen mit Verunsicherung reagieren?

Ja, in der Tat. Und es gibt zwei grundlegend unterschiedliche Möglichkeiten, darauf zu reagieren: Flucht in die einfachen Lösungen ist die einfache und zugleich die gefährliche. Die andere, produktivere Form würde ich als Anverwandlung bezeichnen: nicht bloße Anpassung, sondern auch der Wille, neue Technologien gestaltend zu beherrschen und zum Nutzen der Menschen einzusetzen. Das beginnt mit der Einführung der Verkehrsampeln für überfüllte Straßenkreuzungen und reicht bis zur ordnungspolitischen Regulierung der Digitalkonzerne und der Digitalisierung im 21. Jahrhundert.

Internethype oder Kulturpessimismus – gibt es noch etwas dazwischen?

Genau das ist es, was „Anverwandlung“ meint: die goldene Mitte zwischen naiver Euphorie und fruchtlosem Pessimismus. Das gilt zum Beispiel für die Bildungspolitik im Zeitalter der Digitalisierung. Vieles, was im Zusammenhang des Digitalpakts diskutiert wird, nämlich, bloß die Ausstattung von Schulen mit technischem Gerät oder die Vermittlung von digitalen Skills, greift viel zu kurz. Natürlich sind technische Fertigkeiten wichtig. Aber „digitale Bildung“ muss zugleich Bildung über die Digitalisierung sein: zu verstehen, wie und nach welchen Logiken die digitale Welt funktioniert. Bildung im Zeitalter der Digitalisierung kann nicht bedeuten, Menschen nur als User zu optimieren, sie muss vielmehr den Anspruch haben, den Menschen 1.0 für die Welt 4.0 zu bilden – und dazu braucht es Allgemeinbildung und Urteilskraft. Das Ziel muss sein, dass die Menschen die Computer beherrschen und nicht die Computer die Menschen.

Ist Technik/sind technische Entwicklungen überhaupt naturgesetzlich?

Naturgesetzlich ist im Zeitalter moderner Technologien eigentlich nichts mehr, weil die Technologie die Gesetzmäßigkeiten der Natur außer Kraft gesetzt hat. Auch was die Verbreitung von Technologien betrifft, ist es nicht so, dass dies automatisch geschieht, sondern nur dann, wenn sie von den Zeitgenossen als nützlich erachtet werden. Und wenn das der Fall ist, dann entwickeln sie sich mit hoher Pfadabhängigkeit, das heißt einmal eingeschlagene Entscheidungen wirken weiter. Deshalb schreiben wir bis heute auf Tastaturen mit dieser komischen Anordnung von Buchstaben. Insofern sind Richtungsentscheidungen am Anfang von großer Bedeutung.

Wir möchten Sie als Historiker gerne nach einem Blick in die Zukunft fragen: Wie wird die Gesellschaft den digitalen Wandel meistern?

Der Historiker weiß vor allem eines: dass die Zukunft nämlich offen ist. Und das gilt auch und gerade für den digitalen Wandel. Die historisch gesehen schlechtere Variante wäre auch hier die Flucht in einfache Lösungen, und neue Totalitarismen sind ja gerade im digitalen Zeitalter nicht ausgeschlossen. Die historisch produktivere Variante ist die der Anverwandlung – und das bedeutet im Hinblick auf die Digitalisierung, alle Anstrengungen zu unternehmen, um den Wandel zu beherrschen, so wie es seit dem späten 19. Jahrhundert gelungen ist, Kapitalismus und Industri-alisierung durch Sozialstaat und soziale Marktwirtschaft verträglich zu gestalten – und seine Kräfte zugleich ihren Nutzen entfalten zu lassen. Genau dieser Gestaltungsanspruch beschreibt die große Herausforderung an demokratische Politik: die Anverwandlung der Digitalisierung zum Nutzen der Menschen zu leisten, statt in einfache Lösungen zu flüchten.



Prof. Dr. Andreas Rödder ist seit 2005 Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. In seinen aktuellen Forschungen befasst er sich mit der deutschen Wiedervereinigung, mit Wertewandelsprozessen im 20. Jahrhundert sowie mit der jüngsten Zeitgeschichte seit 1989.

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